Fallbeispiel
Das folgende Fallbeispiel ist dem Text entnommen aus Mayer & Boness (2016):
Ein Fallbeispiel zur Anwendung mediativer Kompetenzen[1]
Herr A. aus Syrien besucht einen Sprachkurs eines großen Anbieters in der deutschen Erwachsenenbildung. Frau K., die Deutschlehrerin, reicht ihm die Hand zur Begrüßung. Herr A. erwidert diese Geste nicht. Stattdessen wendet er sich einem neben ihm stehenden Landsmann zu und tauscht sich mit ihm auf Arabisch aus. Sein Landsmann wendet sich anschließend an die Lehrerin und vermittelt ihr auf English, dass der Kollege einen männlichen Sprachlehrer vorzöge und einer fremden Frau aus Respektgründen nicht die Hand geben würde. Zudem sei er irritiert von der "unsittlichen Kleidung" der Lehrerin. Noch bevor Frau K. reagieren kann, verlässt Herr A. den Unterrichtsraum. Die Situation bleibt für Frau K. zuerst einmal ungelöst. Sie beschließt daher, sich in einer interkulturellen Beratung mit der Situation und ihren Verhaltensmöglichkeiten, die sie gerne als interkulturell kompetent und mediativ erfahren möchte, auseinander zu setzen.
In der interkulturellen Beratung erarbeitet Frau K., die selber als interkulturelle Mediatorin ausgebildet ist, für sich drei Handlungsalternativen im Anschluss an die erfahrene Situation, die für sie auch in folgenden Kursen - in mehr oder weniger ähnlicher Form - kein Einzelfall bleibt.
Zuerst reflektiert Frau K. ihre Gefühle und Bedürfnisse und antizipiert diese für Herrn A. ebenfalls. Sie versucht, sich selber Einfühlung zu geben und zudem diese für Herrn A. zu empfinden.
Frau K.'s Selbstreflexion:
· Frau K. ist erschrocken, entsetzt, ärgerlich, und wütend. Sie reflektiert ihre Gefühle und wie sie sich in der Situation selber gefühlt hat und wie sie sich im Anschluss an die Situation fühlt und antizipiert, wie sie sich in der Situation fühlen wird, wenn sie diese Situation nochmals erlebt.
· Sie möchte in ihrer Rolle als Lehrerin - und nicht limitiert auf ihr Geschlecht - gesehen und für ihre Arbeit und Bemühungen anerkannt werden. Anerkennung für ihre professionelle Arbeit ist ein wichtiges Bedürfnis.
· Über die Selbstreflektion kommt Frau K. zu empathischen Einfühlung in sich selber, ihre Gefühle und Bedürfnisse.
Frau K.'s Reflektion zu Herrn A's Verhalten:
Entsprechend ihres Anspruches, sich interkulturelle kompetent und mediativ zu verhalten und die Situation für sich zu lösen, reflektiert Frau das Verhalten von Herrn A.:
· Herr A. ist irritiert, wütend, ärgerlich, schockiert, frustriert, deprimiert über die Situation in der er sich befindet.
· Er braucht Unterstützung, um sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden und das, was er erlebt aus den Perspektiven von Menschen aus dem Aufnahmeland zu verstehen.
· Evt. hat Herr A. weitere Herausforderungen zu bewältigen, wie Kulturschock, Trauma, seelische Not, die es ihm erschweren, mit alltäglichen Situationen nach der Flucht umzugehen. Diese Herausforderungen können nicht im Sprachkurz Bearbeitung finden, dennoch kann das Verständnis darüber helfen, dass Frau K. sich empathisch in Herrn A. einfühlen kann.
Durch die Selbst- und Fremdreflexion kommt Frau K. dazu, sich mediativ in Herrn A. einzufühlen und zwischen sich und Herrn A. fiktiv zu vermitteln. Sie konstruiert mediatives Verstehen und empathisches Verständnis gegenüber Herrn A. und seinem Verhalten. Frau K. kommt ins Nachdenken über ihre eigene Identität als Frau, Deutschlehrerin und interkulturelle Mediatorin, da sie sich im Blick auf ihre eigenen Werte wie Gleichberechtigung und Respekt angegriffen fühlt, und ihre Allparteilichkeit in diesem Konflikt nicht ohne Aufwand wieder herstellen kann. Sie erlebt bei sich selber, dass die Herstellung von Allparteilichkeit, freiwilliger Auseinandersetzung mit dem Konflikt und Ergebnisoffenheit eine große Herausforderung für sie darstellt, da sie selber dazu tendiert sich zu sagen, dass Herr A. sich schließlich in dem Aufnahmeland den Regeln des Landes anpassen sollte. Gleichzeitig wiedersprechen diese Gedanken Frau K.'s Anspruch, inklusiv zu agieren und Inklusion in ihren Kursen zu betreiben, was aus ihrer Sicht bedeuten würde, ihre und Herrn A.'s Perspektiven zu ergründen, ernst zu nehmen und aufrichtig neu zu verhandeln, ohne die gegebenen Werte und Strukturen aus ihrer Sicht zum Maßstab allen Handels zu machen. Die Ergründung ihrer mediativen Seite hilft Frau K. dabei, ihre interkulturelle Kompetenz zu erweitern.
Frau K. erkennt, dass sie erschrocken war über den "heftigen, gestenreichen Emotionsausdruck" von Herrn A. und seiner Einstellung zur Rollenverteilung der Geschlechter. Sie ist sich bewusst, dass diese Verhaltensweisen evt. kulturspezifisch begründet sein können. Dennoch hilft ihr dieses Wissen vorerst nicht, empathischer mit Herrn A. zu sein, da sie sich in ihren eigenen Werten nach Gleichberechtigung und sachlicher Auseinandersetzung nach berücksichtigt fühlt.
Zudem wird Frau K. auch deutlich, dass es ihr besonders wichtig ist, dass ihre Kursteilnehmer*innen Deutsch lernen - sie hat somit ein Interesse an der Sachorientierung, nämlich die Vermittlung der Inhalte des Deutschkurses und sie erkennt, dass sie innerlich eigentlich voraussetzt, dass ihre Kursteilnehmer*innen sich den Regeln und Strukturen des Kurses und der Gesellschaft anpassen (siehe Schroll-Machl) und diese nicht unbedingt neu verhandelt werden müssen. Sie erkennt jedoch über diesen Konflikt, dass dies nicht unbedingt möglich ist und dass sie Herrn A.'s Verhalten nur teilweise nachvollziehen und (noch) nicht ganzheitlich verstehen kann.
Frau K. ist jedoch deutlich, dass Herr A. Sicherheit sucht, sicherlich auch wirtschaftlichen Aufstieg im neuen Land anstrebt, finanzieller Unterstützung bedarf und Bildungsangebote wahrnehmen möchte. Gleichzeitig kann sie nicht verstehen, dass für Herrn A. die Genderproblematik gewichtiger erscheint, als das Bedürfnis nach Bildung und dem Erlernen der Sprache im Aufnahmeland. Auf Basis dieses Unverständnisses vermutet Frau K., dass Herrn A. die Einhaltung "strikter Genderrollen" wichtiger ist, als das Bedürfnis zu lernen, was sie wütend macht. Sie ist entsetzt über ihre eigene Einstellung, dass sie findet, Herr A. sollte dankbar für einen kostenfreien Sprachkurs sein und sich mit den Regeln im Aufnahmeland anfreunden, anstatt die eigenen Regeln einführen zu wollen. Frau K.'s Bedürfnisse nach der eigenen Sicherheit über das Gelten der gewohnten Regeln im eigenen Heimatland, die Definitionshoheit der Regeln, den Respekt und die Gleichberechtigung der Geschlechter im westlichen Sinn sind Diskussionspunkte in der Beratung und für Frau K. sicherlich Punkte der langfristigen Neuverhandlung, vielleicht sogar Neubetrachtung.
Frau K. versucht weiterhin kulturspezifische Aspekte in ihre Analyse und ihre Interpretation der Situation mit einzubeziehen und somit ihr Empathievermögen zu stärken, Respekt zu konstruieren und die hinter den Handlungen stehenden Wertorientierungen zu ergründen (siehe oben). Sie stellt fest, dass ihr die kognitive interkulturelle Kompetenzerweiterung leicht fällt, wobei es bei den eigenen Verhaltensänderungen bereits anspruchsvoller wird. Die Veränderung ihrer Emotionen und ihrer Emotionskonzepte erscheint ihr recht herausfordernd, vor allem, wenn diese Emotionen an tiefgehende, etablierte Wertorientierungen geknüpft sind.
Auf Basis der mediativer Reflexion und der Auslotung ihrer interkulturellen Kompetenzen, Grenzen und Erweiterungsmöglichkeiten mit einer dritten Person (ebenfalls Mediatorin und Beraterin) in der interkulturellen Beratung, entwickelt Frau K. mögliche Handlungsoptionen die aus ihrer Sicht in der Situation mit Herrn A. - und übertragen auf zukünftige, ähnliche Situationen - übertragen und angewendet werden können.
Erarbeitete Handlungsoptionen aus Frau K.'s Sicht:
1. Frau K. beginnt den Unterricht, ohne sich weitergehend um Herrn A's Reaktion zu kümmern. Sie fährt mit ihrem Unterricht fort und schluckt den Ärger hinunter, um erst nach dem Unterricht über die Situation zu reflektieren und sie mit anderen Personen zu besprechen (Vermeidung der Ansprache des Konflikts im direkten Moment des Konflikterlebens). In dieser Option wartet Frau K. ab, um im Anschluss an die Situation diese tiefergehend für sich aufzuarbeiten.
2. Frau K. bittet den Landsmann, der übersetzt hat, den Vorfall mit den Teilnehmenden zu besprechen und Thema Gender, Kleidung, Rolle der Lehrerin und der Teilnehmenden zu reflektieren und zu diskutieren (Diskussion im Lernkollektiv). Über eine solche Diskussion (die in diesem Sprachkurs durch die noch geringen Sprachkenntnisse begrenzt ist bzw. eine Übersetzung der Beiträge nötig machen würde), würden kulturelle Einstellungen, Werte und Möglichkeiten der interkulturellen Begegnung gemeinsam besprochen, gehört und reflektiert werden können. In diesem Zusammenhang könnte der Sprachkurs auch zu einem interkulturellen Lernfeld werden und Frau K. könnte versuchen, mediativ die Diskussion (evt. mit Übersetzer) zu führen.
3. Frau K. bittet den Übersetzer mit Herrn A. (stellvertretend) zu sprechen und ihn zu bitten, die Problematik mit Frau K. im Gespräch im Anschluss an den Unterricht zu klären (Drittparteien-Intervention/Vermittlung). Der übersetzende Landsmann würde zu einem kulturellen und sprachlichen Vermittler werden zwischen Herrn A. und Frau K.. In diesem Fall wäre Frau K. relativ abhängig von dem Vermittler und hätte aus ihrer Sicht relativ wenig Einflussmöglichkeiten auf Herrn A. und die weitere Lern- und Arbeitssituation. Sie müsste starkes Vertrauen in den Landsmann haben und könnte selber nur abwarten, ob Herr A. sich bereit erklären würde, mit Frau K. in ein weiteres Gespräch unter vier Augen einzutreten.
4. Frau K. folgt Herrn A. mit dem übersetzenden Landmann und versucht ihn zu überzeugen, am Unterricht teil zu nehmen und sich auf die neue Situation einzustellen (direkte Ansprache). Sie würde ihm in Aussicht stellen, sich dem Problem von Herrn A. nach dem Unterricht anzunehmen und es direkt mit ihm (evt. mit dem sprachlichen Vermittler) zu klären bzw. Lösungswege zu suchen.
Aus westlicher interkultureller Konfliktlösungsperspektive sind diese Handlungsoptionen eine Möglichkeit (siehe auch Bennett, 1995), um mit der konflikthaften Situation umzugehen.
In Option 2 und in Option 4 wird Frau K. zu einer Art Vermittlerin zwischen sich, der Sprachkursgruppe und Herrn A. In Option 3 setzt Frau K. einen weiteren Vermittler ein, einen sogenannten Sprach- und Kulturdolmetscher. In Option 1 mediiert Frau K. im Prinzip mit sich selber, sie vermittelt zwischen ihren Gefühlen, Bedürfnissen und ihren eigenen inneren Stimmen, bis sie für sich zu einer Lösung kommt, die sie später dann evt. umsetzen kann. Insofern geht es bei allen drei Handlungsoptionen um mediative Kompetenzen, die im Kontext von interkultureller Kompetenzerweiterung betrachtet werden können.
Hinsichtlich der kulturspezifischen Gegebenheiten wäre es wahrscheinlich besonders interkulturell kompetent, den übersetzenden Landsmann als Vermittler zu gewinnen, um mit Herrn A. zu besprechen, sich kurzfristig auf den Kurs in seiner derzeitigen Form einzulassen, um anschließend mit Herrn A. die Situation in Ruhe zu besprechen, seine Gefühle und Bedürfnisse herauszuarbeiten (Empathie von Frau K.). Zudem könnte er dann auch die Perspektive von Frau K., ihre Gefühle und Bedürfnisse, erfahren (Selbstbehauptung von Frau K.) - und zwar über einen männlichen Vermittler aus seiner Herkunfts- und Sprachkultur, von dem er die Informationen vermittelt bekommt und diese evt. eher annehmen kann, als von Frau K. selber. Kann Herr A. sich darauf einlassen, in den Sprachkurs unter gegebenen Umständen zurück zu kehren, könnten die Konfliktpotenziale des multikulturellen Lernkontextes in einer der Folgestunden evt. sogar im Gruppenkontext thematisiert werden (z. B. Genderrollen, Erwartungen an den Sprachkurs, Erwartungen des Lehrpersonals an die Lernenden etc.). Dies wäre wahrscheinlich jedoch nur möglich, wenn Herr A. sich auch innerlich auf einen interkulturellen Austausch und eine offene Kommunikation mit Frau K. einlassen könnte.
[1] Es handelt sich um eine reale Situation, zu der die Autor*innen als interkulturelle Berater*innen hinzugezogen wurden.